Verschönern statt Verschandeln

Die EVR und die Arbeiterwohlfahrt helfen, die Graffiti-Szene in Rudolstadt in legale Bahnen zu lenken.

 
Plötzlich steht das Rudolstädter Ordnungsamt neben der Trafostation: „Ich nehme mal an, das ist legal, was Sie hier machen“, sagt der Beamte und verzichtet dann doch darauf, sich eine Genehmigung zeigen zu lassen. Dass sich sechs Jugendliche am hellen Tag in der Klinghammerstraße mit ihren Spraydosen derart dreist an fremdem Eigentum vergreifen könnten, kann er sich wohl selbst nicht vorstellen. Und tatsächlich: Die jungen Künstler gehören zu einem ganz besonderen Workshop, den die Energieversorgung Rudolstadt GmbH gemeinsam mit dem AWO Jugend- und Familienhaus ermöglicht und organisiert hat.
 
Der Hiphop wummert aus den Boxen. Rucksäcke und Kartons mit Sprühdosen in allen möglichen Farbrichtungen liegen auf dem Boden. Kursleiter Christian Otto geht in die Hocke, drückt mit dem Zeigefinger der linken Hand auf die Schablone und schüttelt kurz die Dose in seiner Rechten. Dann sprüht er die ersten Stöße auf das Trafohäuschen. „Immer gerade halten“, sagt er. „Dann kann die Farbe nicht unter der Schablone verlaufen.“ Sechs Augenpaare schauen gebannt auf seine Hände. Dann übernimmt Wadia. Der 12-jährige Schüler hat als Motiv für seine Fläche auf dem Trafo-Häuschen einen Blitz und die Initialien von Harry Potter gewählt. Ebenfalls vorgesehen war eine Brille, so wie sie sein Romanheld auch trägt. Doch bei Letzterem durchkreuzte die Technische Richtlinie für Transformatorenstationen am Mittelspannungsnetz die Idee des Künstlers. Die besagt, dass an den Türen dieser Anlagen Warnschilder mit dem Hinweis „Hochspannung Lebensgefahr“ anzubringen sind. Die Brille musste also weichen.
 
Illegale Sprayer – und davon gibt es im Landkreis laut Polizeiangaben einige – interessieren solche Bestimmungen freilich nicht. Doch ein Ziel des Projekts mit den Jugendlichen ist es, der Szene auch Regeln nahe zubringen, an die sie sich halten soll. „Die Szene kann sich durch Nachwuchs im Landkreis komplett verändern und umwandeln, zu einer Kunstrichtung, wie es sich für eine jugendkulturelle Szene gehört. Denn Regeln werden sich herumsprechen und allmählich etablieren“, hofft der Projektleiter.
 
Denn allzu oft folgen die meist jugendlichen Sprayer ihremeigenen, oft illegalen Kodex. Die größte Anerkennung erhält beispielsweise nicht automatisch der begabteste Künstler, sondern derjenige, der für sein „Piece“ (eine Bezeichnung für ein großflächiges Bild) oder seine „Tags“ (Namenskürzel) das größte Risiko eingeht. Nicht wenige Gruppen sprayen auch auf Denkmäler oder Kirchenwände. „Mit dem Projekt wollen wir dafür sorgen, dass ein Szenenachwuchs besteht, der eben begreift, dass illegales Sprühen zwar seinen Reiz hat, aber eine wahrhaftige künstlerische Verwirklichung erst im legalen Bereich vollzogen wird“, sagt Otto, der zu seinen Jugendzeiten früher selbst einmal in Leipzig aktiv war.
 
Nächste Projekte sind schon in Planung
 
Ganz so weit gehen Wadia, Shirin, Colin, Sarah, Lenny und Johanna allerdings noch nicht. „Mich hat das Künstlerische gereizt“, sagt etwa Johanna. Sie hat eine rosa-graue Steckdose auf grünem Hintergrund auf das Trafohäuschen gesprayt. Als Teil einer Jugendszene sieht sie sich nicht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Die Woche jedenfalls habe ihr Spaß gemacht. Es soll nicht das letzte Trafohäuschen, nicht die letzte freie neu gestaltete Fläche gewesen sein, durch die Rudolstadt verschönert werden soll. „Wir haben Bock auf mehr“, sagt Christian Otto mit Blick auf Claudia Hoffmann, die Marketing-/Kommunikations-Leiterin der EVR. Sie ist gekommen, um das Ergebnis der Kurswoche in Augenschein zu nehmen. Was sie sieht, gefällt ihr – und sagt spontan weitere Flächen zu. Stromhäuschen hat die EVR schließlich reichlich im Angebot.

 

 

Quelle: EVR - Magazin Herbst 2018/ 13.11.18

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