Kummerkasten mit Boxsack an Oberweißbacher Regelschule



Schulsozialarbeiterin Anika Seidel in ihrem Zimmer in Oberweißbach mit dem Boxsack, an dem sich Schüler oder auch Lehrer abreagieren dürfen. Die 36-jährige Psychologin ist Ansprechpartnerin für schulische und außerschulische Probleme. Foto: Thomas Spanier

Anika Seidel ist eine von aktuell neun schulbezogenen Sozialarbeiterin im Landkreis. Ein Besuch in Oberweißbach.

 

Oberweißbach. Mal haben die großen Jungs die Burg kaputt gemacht, mal wurde den kleinen der Ball geklaut. Mal möchten zwei Mädchen den "Kondomführerschein" machen, mal gibt es zu Hause Ärger mit den Eltern. Anlässe gibt es genug, um bei Anika Seidel anzuklopfen. Die 36-Jährige ist seit dreieinhalb Jahren Sozialarbeiterin an der Regelschule "Friedrich Fröbel" in Oberweißbach. Und sie mag ihren Job.

"Ganz wichtig ist das Vertrauensverhältnis, das muss man sich erarbeiten", sagt die Erfurterin, die in der Woche mit ihrem siebenjährigen Border-Collie in einer Ferienwohnung in Cursdorf lebt. Damit das mit der Vertraulichkeit nicht von Anfang an auf tönernen Füßen steht, hat sie ein eigenes Büro mit Schreibtisch im Schulhaus. Was sie erfährt, muss sie für sich behalten, sofern es Schüler oder auch Lehrer wünschen, für die sie ebenfalls als Ansprechpartner da ist. "Die Lehrer haben es aber noch nicht so entdeckt, dass sie mich in Anspruch nehmen können", sagt Anika Seidel.

Das häufigste Problem, mit dem sie konfrontiert wird, ist Streit untereinander. "Das passiert in den fünften bis siebten Klassen ganz oft und ist auch nicht ungewöhnlich", sagt die junge Frau mit einem Masterabschluss in Psychologie. Schon an zweiter Stelle kommen die Probleme zu Hause, entweder mit den Eltern oder der Eltern untereinander. Erst dann die Konflikte zwischen Schülern und Lehrern.

Der Arbeitstag der "schulbezogenen Sozialarbeiterin", die noch acht Kollegen im Landkreis hat, beginnt nach der ersten Stunde und endet nach der achten Stunde, wenn alle Schüler weg sind. Die Kinder kommen in den Pausen zu ihr, manchmal bilden sich kleine Schlangen vor dem Büro. Doch nur zu warten, bis jemand den Weg zu ihr findet, das reicht Anika Seidel nicht. "Etwa 50 Prozent kommen von selbst, die kommen auch immer wieder. Den Rest spreche ich aktiv an", sagt sie.

 

Freiwilligkeit, Vertraulichkeit, Kostenfreiheit, Unabhängigkeit und Neutralität sind die Grundsätze ihrer Arbeit, zu der auch Gespräche mit Eltern und Lehrern und eine umfangreiche Dokumentation gehören. Ihrer Schätzung nach hat sie mit rund 80 der knapp 200 Schüler an der Oberweißbacher Regelschule Kontakt.

Sie bietet in drei Klassen mit je einer Wochenstunde soziales Kompetenztraining an, zudem ein spezielles Programm über soziales Lernen, bei dem es um Dinge wie Selbstvertrauen, Zuhören, Kommunikation und Feedback geht. Seit drei Jahren hält sie flexible Unterrichtsstunden, bietet praktisches Englisch und Basteln an. Sie hat am Internetauftritt der Schule maßgeblich mitgewirkt. Der Schulchor schlief ein, als nur noch vier Leute kamen.

Umso beliebter sind ihre Hundespaziergänge in die Natur. "Ich verstehe das nicht: Viele Schüler kommen kaum noch raus, obwohl sie hier mitten in der Natur leben", sagt Anika Seidel. Mit dem Border-Collie und einem ganzen Rattenschwanz von Mädchen und Jungen geht es dann in die Umgebung. Im Moment ruht das Erfolgsmodell – wegen bürokratischer Hürden. Dafür ist die Aufklärungsrunde begehrt, in der sie mit den Schülern über Sexualität redet. "Das Thema ist in der Grundschule auf dem Lehrplan, danach erst wieder in der achten Klasse", so die Erfurterin. "Die Schüler haben aber Fragen, die sie nicht unbedingt ihren Eltern stellen wollen".

Und oft haben sie auch Ideen. So kamen im vorigen Sommer ein paar Jungs zu ihr und fragten, ob sie nicht mal eine Wasserschlacht machen könnten. Also organisierte sie das Ganze und ließ die Schüler am nächsten Tag mit Wasserpistolen aufeinander los. Wer es noch härter braucht, für den hängt ein Boxsack im Büro von Anika Seidel. Den haben ihr die Sportlehrer unters Dach geschleppt. Er soll helfen, Aggressionen abzubauen – und er kam schon zur Anwendung.

So viel Engagement kommt auch bei den Lehrern in Oberweißbach an. "Sie federt vieles ab, was wir nicht leisten können", sagt Schulleiterin Jutta Pfordt, die kurz vor Anika Seidel 2013 in Oberweißbach angefangen hat. Für Schüler und Lehrer sei die Sozialarbeiterin eine "absolute Rückenstütze", auf die man nicht verzichten möchte. "Da sind wir echt mal privilegiert", so die Schulleiterin.

Was sie im Alltag so macht, stellte Anika Seidel auch am vorigen Sonnabend beim Tag der offenen Tür an der Regelschule "Friedrich Fröbel" in Oberweißbach vor. Die Visitenkarte von ihrem Träger, der AWO Soziale Dienste Rudolstadt gGmbH, ist auch mit ihrer Handynummer versehen.

Das dürften die Oberweißbacher Mädchen und Jungen fast schon wieder cool finden, so wie die Präventionstage in Sachen Gesundheit, Drogen und Sucht. Vor allem aber wissen sie, was uncool ist: Lernen, Respekt, Höflichkeit, gute Zensuren.

Hier ein bisschen die Werte mit zu verschieben, dazu möchte sie beitragen. Einen Erfolg kann sie in diesem Geschäft der kleinen Schritte aber verbuchen: Das Klima an der Schule ist laut einer Umfrage unter den Schülern von Jahr zu Jahre besser geworden. Und die Lehrer registrieren einen anderen, einen besseren Umgang der Schüler untereinander.

 

Quelle: OTZ - Thomas Spanier / 24.02.17